Psychische Erkrankungen im Rollenspiel I – Die Charaktere und die Immersion

Geistige Erkrankungen gehören zum Menschen wie der krumme Rücken, der Bandscheibenvorfall, das gebrochene Bein oder die Kurzsichtigkeit. Nüchtern betrachtet sollte man damit umgehen können wie mit jeder anderen Erkrankung auch. Aber viele Menschen betrachten die Welt nicht nüchtern, sondern gehen mit einem sehr subjektiven Blickwinkel gerade an diesen kritischen Aspekt menschlichen Lebens heran, egal ob sie selbst betroffen sind, jemanden kennen der unter einer geistigen Erkrankung leidet, oder ob sie nur eine geistige Schublade für psychisch Erkrankte bereithalten.

Ich werde die Frage behandeln, welchen Einfluss psychische Erkrankungen im Rollenspielalltag haben können. Ganz konkret möchte ich damit beginnen, mich mit der Frage ausgespielter psychischer Erkrankungen bei Spielercharakteren zu beschäftigen. Zur Immersion kann dieses Thema nur beitragen, wenn es adäquat behandelt wird. Das wird es bedauerlicherweise an vielen Stellen nicht. Jeder Rollenspieler erlebt beständig die unterschiedlichsten Interpretationen ausgespielter geistiger Erkrankungen bei Spielercharakteren. Einige bringen uns zum Schmunzeln, andere zum Haare raufen, während wieder andere Arten ausgespielter Geisteskrankheiten kaum bemerkt werden, außer es geht plötzlich um Würfelregeln.

Der gesellschaftliche Blick

In der realen Welt, gerade bezogen auf das persönliche Umfeld, schienen psychische Erkrankungen bis vor kurzem eher einer Randerscheinung gleichzukommen. Man mag hier bereits bemerken, dass ich etwas um absolute Formulierungen herumkreise, denn mitnichten waren psychische Erkrankungen früher weniger präsent. Man sprach schlicht weniger darüber, da geistige Leiden oftmals wie ein Hexenmal behandelt wurden. Dem geistig Kranken haftet auch heute noch das Stigma des Schwachen, des Unproduktiven an. Es wird mitunter so getan, als stimme etwas mit diesen Menschen nicht. Dieser Aussage ist genauso wahr wie die Aussage, dass mit einem Grippe- oder Fieberpatienten etwas „nicht stimmt“. Auch wenn psychische Erkrankungen in einen öffentlicheren Fokus gerückt worden sind, werden sie bei vielen Menschen nicht als Krankheiten, sondern als Störungen in der negativsten Auslegung des Wortes gesehen. Zugute halten muss man der Gesellschaft, in der wir uns bewegen, dass versucht wird, mit diesem Thema offener umzugehen.

Dieses Umdenken, dieser Fokuswechsel weg vom offenen Stigmatisieren hin zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem Thema drängt, jedoch kommt er nicht aus altruistischen Gefühlen heraus. Gerade die Arbeitswelt hat sich gewandelt. Was früher der „kaputte Rücken“ war, wird langsam, aber stetig von geistigen Krankheiten abgelöst. Die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen im Arbeitsalltag haben die „klassischen“ Gründe für Arbeitsausfälle überholt und nehmen nun den ersten Platz ein. So berichtet die Techniker Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport von 4,3 Millionen Fehltagen aufgrund depressiver Episoden im Jahr 2013 allein unter ihren Mitgliedern. Auch die BundesPsychotherapeutenKammer (BPtK) hat eine Studie zur Arbeitsunfähigkeit für das Jahr 2015 durchgeführt. Mehr als jeder siebte gemeldete Arbeitsunfähigkeitstag ist dieser Studie zufolge psychisch bedingt. Die durchschnittliche Krankschreibungsdauer aufgrund psychischer Erkrankungen lag im Jahr 2013 bei 34,5 Tagen. Der Wert ist der höchste verglichen mit der durchschnittlichen Krankschreibungsdauer aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (21,3 Tage), Muskel-Skelett-Erkrankungen (18,5 Tage), Verletzungen (18,9 Tage) oder aufgrund von Erkrankungen der Atemwege oder der Verdauung (6,6 Tage).

Was sagt uns das und warum breite ich diese Statistiken im Rahmen dieses Kommentars so aus? Die Krankenkassen haben ein Interesse daran, den „Kostenfaktor psychische Erkrankungen“ zu senken. Das ist nur normal. Insgesamt sagt es uns aber auch, und hier wird es dann spannend, dass psychische Erkrankungen keine Randerscheinungen sind. Sie können jeden betreffen. Dich, deine Geschwister, deine Arbeitskollegen. Man muss nicht in den unendlichen Strudel stygischen, lovecraftschen Schreckens blicken um eine geistige Erkrankung zu erfahren. Denn eine solche ist für viele leider Alltag. Ein Alltag, in dem man sich trotz dieser Statistiken immer noch stigmatisiert fühlen kann.

Zum einen leben Menschen mit psychischen Erkrankungen beständig mit der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes, zum anderen aber auch mit dem Gefühl, als „komisch“ von der Umwelt betrachtet zu werden. Man ist schließlich nicht „normal“, irgendetwas stimmt nicht. Man „tickt nicht richtig“. Gerade letzteres ist natürlich absoluter Unsinn, doch hat sich diese Sicht in den Köpfen vieler Menschen hart gefestigt. Viele sind in dem Glauben sozialisiert worden, dass Menschen mit psychischen Krankheiten „Bekloppte“ sind, die man nur in „Irrenhäusern“ findet. Diese Sichtweise weicht ebenso langsam auf, wie anderes Schubladendenken aufweicht. Wo sie sich hartnäckig zu halten scheint, ist in der Rollenspielwelt.

Der Fun-Malkavianer – Ein Beispiel aus der Immersionshölle

Wir kennen sie. Wir „lieben“ sie. Wir möchten sie mit der Latexkeule vom LARP jagen: Die Malkavianer aus der Hölle. Die Fun-Malks aus Vampire: Die Masquerade. Ich möchte ein Beispiel, gegriffen aus dem Leben eines Live-Rollenspielers, dazu geben, wie man ausdrücklich nicht mit psychischen Erkrankungen als Bestandteil von Spielercharakterkonzepten umgeht.

Für die Rollenspieler, die noch nicht mit Vampire in Kontakt gekommen sind, sei an dieser Stelle die Information eingestreut, dass jedes Mitglied dieses Vampirclans über mindestens eine permanente Geistesstörung verfügt. Somit muss sich jeder Spieler eines Charakters aus diesem Clan mit der Frage auseinandersetzen, an welcher Störung sein Charakter leiden soll. Die psychische Erkrankung des eigenen Charakters wird ein essentieller Teil des Charakterkonzepts.

Letztendlich war ein beschaulicher Reigen vor dem Start des Vampire-Live-Abends. Man spielte, wie sich das gehörte, eine Camarilla-Domäne. Warum auch nicht? Schon vor Wochen hatte ich mir Gedanken über einen neuen Charakter gemacht. Es sollte einmal einer sein, der etwas freier agieren konnte. Meine Wahl fiel auf die Malkavianer, hatte ich doch auch schon immer ein Faible für etwas bizarrere Charaktere und genau das sollte der Charakter sein: Bizarr und verstörend im Verhalten, ohne zu überzeichnen.

Welche Hintergrundgeschichte verfasst man für einen solchen Charakter, der solchen Vorstellungen gerecht werden sollte? Der Charakter sollte am Ende nicht plump mit einer geistigen Erkrankung aufwarten. Nein, seine Erkrankung sollte mindestens halbwegs nachvollziehbar sein, mindestens halbwegs konsequent im persönlichen Lebenslauf eingearbeitet sein. Um das zu bewerkstelligen habe ich mich mit Krankheitsbildern auseinandergesetzt und mir, darauf gründend, überlegt wie so etwas für den von mir konzipierten Charakter aussehen könnte, um das Ziel möglichst konsistenter Charakterdarstellung zu erreichen. Man möge mir auch verzeihen, dass ich zu dieser Zeit, es geschah vor mehr circa 15 Jahren, nicht kreativer war, als mir folgendes zu überlegen:

Ein junger Student der Humanmedizin, der mit seiner ebenfalls jungen Verlobten in einer Mietwohnung hauste. Ein Studiendarlehen wurde nicht gewährt, also musste er sich anders Geld beschaffen. Glücksspiel erschien ihm als eine Alternative und, wie es die Welt der Dunkelheit so hergibt, waren auch entsprechende kriminelle Kreise schnell gefunden. Leider verlor der Ärmste mehr als er zahlen konnte was, über kurz oder lang, die typischen „Knochenbrecher-Geldeintreiber“ auf den Plan rief. Die Situation eskalierte und, ohne zu weit auszuholen, seine Verlobte wurde nach längerem Martyrium getötet. Der junge angehende Arzt musste ihr über Stunden andauerndes Dahinscheiden mitansehen und behielt Narben geistiger Natur zurück. Er entwickelte eine Posttraumatische Belastungsstörung, die im späteren Verlauf von einer manisch-depressiven Erkrankung begleitet wurde.

Die Hintergrundgeschichte umfasste schlussendlich gute vier DIN-A4 Seiten, die von diesem Ereignis über sein Vampir-Werden bis zum Moment des aktiven Spieleinstiegs kündeten. Und so stand ich erwartungsvoll mit einem durchaus anspruchsvollen Charakter im Gepäck vor dem Eingang des Elysiums, zweifelnd, ob ich die Facetten dieses Protagonisten überzeugend darstellen können würde. Doch obwohl mein Charakter in seiner Vergangenheit bereits Schrecken erlebt hatte, sollten diese von meinem Real-Life-Entsetzen in den nächsten 20 Minuten noch übertroffen werden.

Ich betrat das Elysium und stellte mich als Neugeborener dem Range entsprechend vor. Schnell wurde mir mitgeteilt, dass ich mich doch an meinesgleichen in der Stadt wenden möge, die sich an einem Tisch inmitten des Elysiums aufhielten. Und da waren sie: Die Personifizierungen aller Vorurteile über malkavianische Spielercharaktere. Ich möchte vorweg schicken, dass ich an dieser Stelle jegliche Überzeichnung unterlasse.

Nehmen wir zuerst „Pinky“, wie ich sie geistig zu nennen pflegte. Eine rosa Schleife zierte ihr Haar. Gekleidet war sie in ein kurzes rosa Kleidchen mit rosa Strümpfen. Auf ihrem Schoß saß ein Teddybär mit abgerissenem Ohr. Neben ihr saß ein junger Mann im Anzug, der die ganze Zeit mit Visitenkarten zu spielen schien. Sein Blick flog hin und her und her und hin, als würde er verfolgt. Beiden gegenüber hatte eine weitere männliche Person in zerschlissener Arbeiterkluft Platz genommen, die sich redlich bemühte, laut zu stottern.

Jeder, der diese Zeilen liest, kann sich denken, worauf die Beschreibungen hinauslaufen. Und ja, „Pinky“ redete mit ihrem Freund, dem Teddybären, giggelte im Übermaß und stellte sich ansonsten als Frohnatur dar, die zu allem und jedem Scherze machen musste. Der Anzugträger war tatsächlich nicht nur paranoid, vermutete also hinter jeder Person einen Verfolger, sondern auch schizophren. Er hörte allerdings nicht nur bedrohliche Stimmen, sondern sprach mit seinen Visitenkarten, denen er Namen gegeben hatte. Der Stotterer litt unter Amnesie und einer Persönlichkeitsstörung. Er hielt sich für einen Dockarbeiter im 19. Jahrhundert. Als solcher redete er, stotternd natürlich, über nichts anderes als Schiffe.

Damit sei dann auch der Tiefgang der drei genannten Charaktere im Detail dargelegt worden. Mehr gibt es nicht zu sagen. Hier hatten wir die typischen Fun-Malks.

Sind psychische Erkrankungen ein Fun-Faktor?

Das klingt für euch, liebe Leser, normal? Ihr empfindet dies als nicht weiter erwähnenswert? Man spiele schließlich um Spaß zu haben und gehe nicht zum Lachen in den Keller? Diese Argumentation des Spaßes höre ich bei vielen Themen leider sehr oft. Leider lese und höre ich sie auch gerade bei dem Thema ausgespielter psychischer Erkrankungen. Und es stellt sich mir die unweigerliche Frage ob psychische Erkrankungen lustig sind. Sind sie das? Ist der Charakter mit der Geistesstörung der Clown der Runde oder des LARPs, der bei zu viel Ernst die Stimmung hebt und die Lacher auslöst? Nein! Psychische Erkrankungen sind nicht lustig!

Es irritiert immens, dass gerade auch Spieler, die Tage bis Wochen dafür aufbringen, Charakterhintergründe zu recherchieren, Geschichten zu schreiben, die schlussendlich alles dafür tun um ihren Charakter konsequent in eine Welt einfließen zu lassen, die „maximalimmersiv“ nachempfunden werden soll, eben dieses Vorhaben durch solche Charakterzüge vernichten. Psychische Erkrankungen können zu Lachern führen, wenn sie in entscheidenden Momenten zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig ist hierbei jedoch, dass ein Charakter mit Geistesstörungen eben nicht bewusst für Lacher sorgt, dass er eben kein Clown ist. Man möge nun nicht denken, dass man über geistige Krankheiten keine Witze machen darf. Meiner Erfahrungen nach ziehen gerade betroffene Menschen ihre Leiden am stärksten durch den Kakao. Charaktere im Rollenspiel, die geistige Krankheiten rein als Spaßfaktoren ausspielen, dienen jedoch nicht der Immersion. Ich würde gar einen Schritt weiter gehen und sie als nicht konsequent ausgespielt deklarieren.

Ebenso wenig konsequent ausgespielt werden geistige Krankheiten, wenn selbige zu einem reinen Würfelmechanismus verkommen. Nicht wenige Regelwerke umfassen Würfelregeln zu geistigen Krankheiten. Das ist nicht schlecht. Ganz im Gegenteil sollten sich die Auswirkungen geistiger Krankheiten auch im Regelsystem wiederfinden. Ein Charakter mit einer generalisierten Angststörung wird vermutlich weniger Antrieb finden einer gefährlichen Aufgabe nachzugehen, bei der die Auswirkungen des Scheiterns katastrophale Folgen hätten, als ein gesunder Charakter. Das möchte aber auch ausgespielt und nicht nur über Modifikationen bei einem Würfelwurf ausgedrückt werden.

Konsequenter Umgang mit Geisteskrankheiten bei Charakteren

Ich bin ein Freund davon, mir die Geschichte eines Charakters vor dem regeltechnischen Auspunkten zu überlegen. Dies kann ich hier jedem Spieler nur empfehlen, der einen Charakter mit geistigen Krankheiten generieren möchte. Warum ist der Charakter krank? Bei vielen psychischen Erkrankungen gibt es Auslöser. Das muss nicht unbedingt ein dramatisches Einzelerlebnis sein, das können auch Lebensumstände sein, denen der Charakter über längere Zeit ausgesetzt war.

Bei diversen Systemen können sich geistige Krankheiten im Spielverlauf ergeben. Bei Cthulhu sind sie ein zentraler Spielinhalt, dem alle Charaktere ausgesetzt werden können, die zu viel sehen, die zu viel von den Geheimnissen in den dunklen Ecken der Welt erfahren. Auch Schattenjäger kennt geistige Erkrankungen, die ein Charakter erfahren kann, wenn er schlicht zu viel erlebt. Diesen Systemen ist gemein, dass die geistigen Erkrankungen im Spielverlauf erfahren werden. Sie sind in der Regel kein Faktor, mit dem die Spielercharaktere starten. Meiner Erfahrung nach wird bei einem solchen Szenario die Erkrankung deutlich konsequenter dargestellt, da auch die Ursache für die geistige Störung ausgespielt wurde.

Das sind allerdings brachiale Ausbrüche geistiger Erkrankungen, die, wie eine posttraumatische Belastungsstörung, ereignisbezogen ausgelöst werden. Diese Praxis passt bei Charakteren wie dem typischen Malkavianer, dessen Geistesstörung in der Regel schon im Hintergrund verankert sein muss, nicht. Hier hilft nur was viele Rollenspieler beständig an anderen Stellen wie selbstverständlich tun: Recherche!

Setzt euch mit geistigen Erkrankungen auseinander. Dazu dient es weniger, sich Onlineforen von Betroffenen anzusehen. Lasst das bloß sein! Genauso wie man bei einem zwickenden Bein nicht „Doctor Google“ aufsuchen sollte, so sollte man es auch nicht bei geistigen Erkrankungen tun. Es gibt jedoch diverse ernstzunehmende Blogs und Beschreibungen aus ärztlichen Quellen. Sollte euch eine allzu umfangreiche und zeitintensive Recherche über Fachseiten nicht möglich sein, so könnt ihr zumindest die Wikipedia aufsuchen und euch rudimentär mit Krankheitsbildern vertraut machen. Das ist allemal besser als gar keine vorherige Auseinandersetzung mit der Thematik.

Letztendlich wird es, wenn man nicht auch persönlich selbst betroffen ist, schwer bis unmöglich die Denkstrukturen eines Menschen nachzuvollziehen, der unter einer psychischen Erkrankung leidet. Selbst den Kranken nahestehende Menschen können diese nicht adäquat nachempfinden. Das Rollenspiel wird damit immer eine Interpretation bleiben. Das schadet aber nicht, sollte dem Ausspielen auch keinen Abbruch tun, solange man sich diesem Thema widmet wie man sich bei der Charaktergenerierung auch jedem anderen Thema widmen würde: konsequent und differenziert.

Psychisch Erkrankte sind nicht „bekloppt“, man findet sie nicht nur im „Irrenhaus“. Geistesstörungen sind nicht die natürlichen Spaßfaktoren des Spieltisches. Sie sollten, werden sie konsequent ausgespielt, tragische, bizarre, bei Wesen wie Vampiren gar verstörende Wesenszüge sein.

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